Chile: Kein Erdrutsch für Michelle Bachelet

claudius proesser wahl chile

Nun muss sie doch in die Stichwahl: Bei den gestrigen Präsidentschaftswahlen in Chile erzielte die Kandidatin des progressiven Bündnisse „Nueva Mayoría“, Michelle Bachelet, mit 46 Prozent ein nur knapp besseres Ergebnis als bei ihrer ersten Wahl 2005. Die regierende rechte Alianza kann aufatmen – ihre kurzfristig aufgestellte Kandidatin Evelyn Matthei holte zwar mit 25 Prozent eines der schlechtesten Ergebnisse ihres Lagers seit Rückkehr zur Demokratie, hat aber nun doch eine zweite Chance.

Eine gewisse Enttäuschung stand einigen Mitgliedern des Bachelet-Kommandos schon in den Gesichtern geschrieben. In den vergangenen Wochen hatten verschiedene Umfragen, aber auch viel selbstproduzierte Euphorie die Hoffnungen auf einen Durchmarsch im ersten Wahlgang der Präsidentschafts- und Kongresswahlen wachsen lassen.

Grund für diese Euphorie war nicht zuletzt das Chaos um die Kandidat/innen-Aufstellung innerhalb der Regierungsallianz aus rechter, pinochetistischer UDI und liberalerer RN des amtierenden Präsidenten Piñera. Noch vor den Ende Juni erstmals abgehaltenen Vorwahlen musste mit Laurence Golborne, dem Ex-Bergbauminister und gefeierten Retter der 33 Bergleute, einer der aussichtsreichsten Kandidaten zurücktreten. Er stolperte über ein geheimes Konto auf den britischen Virgin Islands, auf dem er, vermutlich an den Steuerbehörden vorbei, üppige Beträge angelegt hatte. Wie und von wem diese Information gespielt wurde, ist nicht bekannt. Durchaus möglich, dass dies auch aus der eigenen Allianz heraus geschah.

So ging aus dem Rennen in den internen Vorwahlen der Allianz schließlich Pablo Longueira, ebenfalls UDI, hervor, der sich klar gegen den liberaleren Andrés Allamand durchsetzte. Doch keine 10 Tage später erklärte Longueira aufgrund einer diagnostizierten schweren Depression seinen gesundheitsbedingten Rücktritt. Nach der Logik der internen Machtverteilung innerhalb des Regierungslagers stand der rechteren UDI (Unión Demócrata Independiente ) die Kandidat/innenbestimmung zu, nachdem mit Piñera ein Kandidat der liberaleren RN Präsident geworden war. Damit wurde der Weg für die 60-jährige Arbeitsministerin Evelyn Matthei frei, einer sehr energischen und selbstbewussten, aber durchaus auch ruppigen und stramm konservativen Generalstochter, die im Referendum 1988 für Pinochet gestimmt hatte.

Mit dieser Konstellation kreuzten sich die Familiengeschichten von Matthei und Bachelet erneut: Beide hatten bereits als Kinder miteinander gespielt, als ihre befreundeten Väter, die Offiziere Matthei und Bachelet, zusammen in Antofagasta im Norden Chiles stationiert waren. Nach dem Putsch trennten sich die Wege auf brutale Weise: General Bachelet wurde als Unterstützer des verfassungsmäßigen Präsidenten Allende in den Kellern der Luftwaffenakademie inhaftiert und gefoltert, die vom deutschstämmigen Fernando Matthei als Kommandierendem geleitet wurde. Bachelet fand keine Gnade bei seinem ehemaligen Freund und starb in Haft an den Folgen der Folter, die seine eigenen Kameraden ausgeübt hatten.

Ein durchprivatisiertes Land

Doch auch diese familiären und politischen Verstrickungen mit der düsteren Vergangenheit des Landes boten in den vergangenen Wahlkampfwochen keinen Anlass zur Polarisierung. Während sich Evelyn Matthei redlich mühte, im deutlich nach links gerutschten Chile bis auf Härte in Fragen der innere Sicherheit keine allzu offensiv rechten Positionen zu thematisieren, vermied auch Michelle Bachelet in den letzten Wahlkampfwochen bis zur letzten Minute klare Reform-Aussagen und verbreitete eher diffusere Gerechtigkeits- und Wohlfühl-Botschaften.

Das betraf sowohl die von der Studenten- und anderen sozialen Bewegungen erhobene Forderung nach einer grundlegenden Reform des privatisierten und maßlos überteuerten Bildungs- und Gesundheitswesen, wie auch überfällige Reformen der Steuer- und Sozialsysteme.

Bis heute ist Chile das Land mit einer der spektakulärsten Reichtumskonzentrationen und den höchsten Einkommensdifferenzen in Lateinamerika und weist, trotz kontinuierlicher Reduzierung der offiziellen Armutsraten, einen der größten Niedriglohnsektoren des Kontinents auf. Deshalb ist in der konsequent privatisierten und monopolartig organisierten sozioökonomischen Realität Chiles für viele Bürger/innen ein angemessenes Bildungsangebot, eine bezahlbare Gesundheits- oder eine akzeptable Altersvorsorge kaum oder nur unter einer sich immer schneller drehenden Schuldenspirale zu finanzieren. Die Lebenswirklichkeit definiert die Chilen/innen nicht als Bürger/innen mit Rechten, sondern als Konsumenten privater Dienstleistungen, ohne jedoch das notwendige Maß an Verbraucherschutz genießen zu können. Das unantastbare, von der Verfassung aufs Äußerste priorisierte Recht auf Privateigentum schränkt zahlreiche andere, auch kollektive Rechte in der Praxis auf eine Art und Weise ein, dass jegliche Reform der Verfassung an einzelnen Punkten Stückwerk bleibt.

Zugleich ist die ideologisch begründete Reduktion des Staates auf ein Minimum -und damit seiner Möglichkeiten, über Politiken moderne und innovativere Entwicklungsstrategien zu verfolgen- für ein OECD-Mitgliedsland wie Chile mittlerweile kontraproduktiv. Das Land verschleudert mit seinem unfairen Bildungssystem nicht nur zahlreiche Talente. Auch bietet die einseitige Orientierung auf die Ressourcensektoren wenig Raum für einen diversifizierten, nachhaltigen Industrie- und KMU-Sektor mit qualifizierten Arbeitsplätzen. Dafür schafft die Rohstoffökonomie eher neue Abhängigkeiten von internationalen Konjunkturen und erst recht zahlreiche neue Konflikte um knappe Ressourcen wie Wasser und Energie.

Es ist im Wesentlichen der Verdienst der Studenten- und anderer sozialer Bewegungen, dass den in der Diktatur etablierten strukturellen Benachteiligungen und Unzulänglichkeiten seit Mitte der 2000er Jahre, vor allem aber seit 2011, eine klare Reformforderung für die Zukunft entgegensteht.

Damit war die für gewöhnlich stark selbstreferentielle politische Elite in bis dahin nur schwer vorstellbarem Ausmaß gezwungen, diese Forderungen zumindest rhetorisch in ihren Wahlprogrammen zu verarbeiten. Zwar griff auch die liberalere Rechte der RN in den vergangenen Monaten Forderungen nach einer Reform des politischen Systems auf, und schärfte gar die rechte UDI und ihre Kandidatin Matthei ihr soziales Profil mit vorsichtigen Vorschlägen für eine Stärkung der Arbeitnehmer/innenrechte, doch blieben sie – wie auch das progressivere Bachelet-Lager – eine Präzisierung und Konkretisierung zahlreicher wohlklingender Vorhaben schuldig. Erst recht drückte sich beispielsweise Bachelet um eine klare Positionierung in sehr viel grundsätzlicheren Fragen, wie die um eine verfassunggebende Versammlung für eine Verfassungsreform.

Kleine Erfolge

So ist nicht verwunderlich, dass schließlich am Wahltag nur eine Wahlbeteiligung von 56 Prozent erreicht wurde – trotz zahlreicher jüngerer Neuwähler/innen, die dank der automatischen Wahlregistrierung nun problemlos ihr Recht hätten wahrnehmen können. Für die allermeisten dieser neuen Wähler/innen stellten weder die beiden großen, noch die weiteren sieben kleineren Kandidaturen einen Anreiz dar, ihre kritische Distanz zum kaum repräsentativen politischen System und den abgehobenen Parteien zu überwinden. Solange zudem das binominale Wahlrecht (Wahl von zwei Kandidaten pro Wahlkreis ohne Berücksichtigung der landesweiten Stimmenverhältnisse) vor allem die beiden großen Lager, und damit deren konsensuale Politikgestaltung gegen Mehrheitsinteressen, fördert, ist mittelfristig keine Etablierung neuer Kräfte und Konstellationen sowie keine Besserung der Wahlbeteiligung zu erwarten.

Dennoch bot auch der gestrige Urnengang eine Reihe von interessanten Ergebnissen: Neben den vom Bachelet Lager unterstützten Studentenführer/innen Camila Vallejo und Giorgio Jackson, deren Erfolg erwartet worden war, konnte auch der unabhängige Studentenführer Gabriel Boric in seiner kalten Heimat im Süden Chiles einen unerwartet deutlichen Einzug ins Parlament feiern. Ebenso erzielte der bekannte und angesehene Journalist Alejandro Guillier mit 37 Prozent im nördlichen Antofagasta einen Sitz im Senat. Dass vor allem in den ländlichen Regionen unabhängige Kandidat/innen zulegen können, weist ebenfalls auf die Notwendigkeit von Dezentralisierung und einer Reform des extrem auf die Hauptstadt ausgerichteten Staatskonstruktes hin.

Bei den kleineren Kandidaturen erreichte der grüne Präsidentschaftskandidat Alfredo Sfeir mit über 2,3 Prozent der Stimmen mehr als einen Achtungserfolg – die Kampagne des Ex-Weltbankers und Harvard-Ökonomen begann erst im April und führte immerhin dazu, dass die grüne Partei Chile erstmalig die notwendigen Unterschriften für eine landesweite Parteigründung sammeln konnte. Interessanterweise erzielte Sfeir, soweit noch in der Nacht zum Montag bekannt wurde, vor allem in einigen ärmeren, ländlichen Gebieten wie auch in den Elitenkommunen von Santiago (Las Condes, Vitacura und Lo Barnechea) bis zu 8 Prozent der Stimmen, trotz eines durchaus auf Reformen ausgerichteten Diskurses.

Die von Partner/innen der Stiftung initiierte Kampagne Marca tu Voto für eine verfassunggebende Versammlung und Verfassungsreform konnte ersten Ergebnissen zufolge über 8 Prozent markierter Stimmzettel verbuchen – ein durchaus ansehnliches Ergebnis angesichts einer ausschließlich ehrenamtlich organisierten Kampagne, die zahlreiche Intellektuelle, Verfassungsrechtler/innen, Politiker/innen, Unternehmer/innen, Künstler/innen und Schauspieler/innen quer über alle Parteigrenzen hinweg in wenigen Monaten seit Mai diesen Jahres mobilisierte. In den letzten Tagen vor der Wahl organisierte die Kampagne eine parallele Wahlbeobachter- und Auszählstruktur mit über 3.000 ehrenamtlichen Helfer/innen und einem hochprofessionellen, 50-köpfigen Auszähl- Team in einer Kampagnenzentrale, das beinahe zeitgleich zu den offiziellen Auszählungsergebnissen und Prognosen die eigenen markierten (und gültigen) Stimmen zählte. Ein zweiter Wahlgang bietet auch dieser Kampagne eine weitere Chance, ihre Stimmenanteile für eine verfassunggebende Versammlung zu erhöhen.

Für Michelle Bachelet dürfte der Erfolg im zweiten Wahlgang gesichert sein, selbst wenn ihr nicht alle der kleineren, progressiven Kandidat/innen „ihre“ Stimmen vermachen. Dennoch ist der verfehlte Durchmarsch in der ersten Runde und die hohe Wahlenthaltung gerade unter jüngeren Wähler/innen ein deutliches Warnzeichen – mit schönen Worten, halbherzigen, punktuellen Reförmchen und sozialpolitischen Einmalzahlungen ist der tiefsitzenden Unzufriedenheit und Entfremdung eines Großteils der chilenischen Bevölkerung vom politischen System nicht beizukommen. Mit ihrem Amtsantritt im März 2014 und spätestens bei ihrer ersten Rede zur Lage der Nation am 21. Mai 2014 wird sie vorlegen müssen, mit welchen konkreten Maßnahmen und Politiken sie Chile „modernisieren, solidarischer und fairer machen“ will. Ganz sicher wird sie diesmal sehr viel weniger Zeit haben, erste überzeugende Ergebnisse vorzuweisen.